Lemberg-Brody-Czernowitz
von
Hans-Christian Rump
Eine
buntgemischte Reisegruppe hatte sich an jenem Oktobermorgen
des Jahres 2001 in aller Herrgottsfrühe am Bukowina-Institut
in Augsburg eingefunden, um gen Osten aufzubrechen: Lehrer und
Lehrerinnen, Pfarrer, Unternehmer, Studentinnen, Schriftsteller
und andere Käuze. Die meisten Teilnehmer kamen aus Augsburg
und Umgebung, aber einige auch aus der Ulmer Gegend oder aus
dem Allgäu. Literarische Spurensuche hatte sie zusammengeführt,
um sich von Dr. Ortfried Kotzian, dem Leiter des Instituts,
und Gernot Römer, dem früheren Chefredakteur der Augsburger
Allgemeinen, die einst Heinrich Heine zu ihren Auslandskorrespondenten
zählte, führen zu lassen. Auf den Spuren jüdischer und nichtjüdischer
Dichter und Schriftsteller in Galizien und der Bukowina“ lautete
denn auch das Thema.
1.Tag
Frohgemut
brach die muntere Gesellschaft auf. Die Route führte sie entlang
der Donau - wie einst die Nibelungen - nach Wien; die Sonne
strahlte, man plauderte und kam vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Doch in der Hauptstadt der einstigen k.u.k.-Monarchie gab es
unvermutet einen Stop, nicht in Schönbrunn - das hätte man sich
ja noch gefallen lassen -, sondern in einem Industrievorort
mitten unter Baumärkten und Kfz-Reparaturwerkstätten. Nicht
ohne Grund, wie sich herausstellte. Ein Leitungsschlauch im
Getriebetunnel war defekt und musste erneuert werden. Die mehrstündige
Wartezeit nahm man gelassen hin, auch wenn dadurch die Stippvisite
in der schönen Altstadt von Pressburg, heute Bratislava, ins
Wasser fiel. Ja, man vertrieb sich die Zeit mit Phantasiespielen.
So beratschlagte ein „Gangster-Quartett“, das sich an einem
der Tische gebildet hatte, was es denn mit einer geraubten Million
Dollar wohl anstellen würde. Dass der spiritus rector
dieses Planspiels aus der Industrie kam, war nicht erstaunlich,
steht man doch dort manchmal vor dem Problem, Schwarzgelder
zu „waschen“.
So
fuhr der Bus um die slowakische Hauptstadt herum, und man konnte
an den hypermodernen, hellerleuchteten Gebäuden schon erahnen,
dass auch hier der Geist der Moderne inzwischen einzogen war.
Das konnte man von unserem Hotel im ca. 90 km entfernten Nitra
allerdings nicht sagen. Ein typischer „sozialistischer Kasten“
erwartete uns: klotzig, ungemütlich, langweilig. Einzig die
Aussicht auf die nächtliche Altstadt mit der illuminierten Barock-Kathedrale
entschädigte für soviel hässlichen Sozialismus.
2.
Tag
Nach dem Frühstück ging die Fahrt weiter. Banská Bystrica, das
frühere Neusohl, bildete die erste Haltestation. Diese barocke
Stadt überrascht durch ihren großen Marktplatz und die
prächtigen Hausfassaden. Ihren einstigen Wohlstand verdankt die
Stadt dem Bergbau. Schon die Fugger hatten hier ihre Filiale.
Seit der Wende war man nicht müßig geblieben und hatte vieles
renoviert, wenn auch noch einiges zu tun bleibt. Besonders angenehm
erwies sich für den stark verschnupften Verfasser die Entdeckung
einer westdeutschen Drogeriefiliale, wo er sich mit Schnupftüchern
en masse eindecken konnte. Große Augen machten wir angesichts
der Tatsache, dass selbst an einem Werktag die große Marktkirche
die Gläubigen nicht fassen konnte. Bis zur Mariensäule standen
sie und folgten der Messe andächtig per Lautsprecher. 40 Jahre
Kommunismus hatten sie der Kirche nicht entfremden können. Aber
auch die junge Mode war nicht zu übersehen. Sie machte manche
Slowa-kin mehr als hübsch: hinreißend schön! Etwas abseits liegt
das „Museum des slowakischen Aufstands“, ein pompös- es, hochmodernes
Gebäude. Nie davon gehört, dachte sich der Verfasser, und wurde
neugierig. Nun ja, je kleiner der historische Anlass, umso größer
die Posaune.
Gut
gesättigt an Kultur und Nahrung fuhren wir weiter. Bald grüßte
von fern die Hohe Tatra, die nach geduldiger Wartezeit sogar ihre
Spitze wolkenfrei zeigte – ein „Fressen“ für alle Photoschützen.
Wenig später kamen wir in Leutschau (heute Levoča) an. Dieses
slowakische „Rothenburg“ birgt einen wahren Schatz, den größten
spätmittelalterlichen Altar in Mitteleuropa. Meister Paul, ein
einheimischer Künstler aus der Schule von Veit Stoß, hat ihn geschaffen.
Aber auch die spätgotischen Wandmalereien mit dem damals so beliebten
Höllenthema zogen die Aufmerksamkeit der fremden Betrachter an
sich. Doch das Städtchen hat noch mehr zu bieten: eine farbige
Darstellung der „Sieben Tugenden“ an der Rathauswand, eine gemütliche
Vinothek in uralten Gemäuern und einladende Hotels, die den Fremden
von einem Wiedersehen träumen lassen.
Doch die Reiseleitung, die „Oberste Heeresleitung“, wie ein Teilnehmer
flachste, drängte zum Aufbruch. Weit entfernt lag das nächste
Nachtquartier, jenseits der Grenze. Rasch durchquerten wir die
reiche Zipser Landschaft, in der einst deutsche Bergleute den
Wohlstand durch ihre Knochenarbeit geschaffen hatten. Dabei erblickten
wir eine großartige Burganlage. Nie war sie erobert worden. Wir
sahen sie malerisch in der nachmittäglichen Sonne liegen. Immer
näher kam die Grenze, aber auch die Dunkelheit. Nur der helle
Vollmond leuchtete uns freundlich. Was mochte uns an der Grenze
blühen? Die Reiseleitung malte schwarz: stundenlanges Warten.
(Sie sollte Recht behalten.)
Aber
sie hatte auch den glänzenden Einfall, uns zu einem Lyrikwettbewerb
aufzufordern. Das Thema: „Der Mond über Uschgorod“. Das
kam an. Fast die Hälfte schwang sich auf des Pegasus Rücken,
um den poetischen Olymp zu erklimmen. So kamen schwarze Gedanken
gar nicht auf. Die aber meldeten sich spätestens bei der Grenzkontrolle.
Ein einziger Zöllner fühlte sich bemüßigt, am Computer unsere
Identität zu prüfen, als wären wir unerkannte Geheimdienst-Spitzel.
Stundenlanges Warten war die Folge. Was für eine Visitenkarte!!
Da hatte es eine junge Prostituierte(?) leichter. Sie grüßte
mit: „Hallo!“, schnappte sich einen gelangweilt herumstehenden
Grenzer, packte ihn ins Auto und fuhr los. Nach ungefähr 10
Minuten kamen beide zurück, er stieg gutgelaunt aus, und sie
hatte freie Fahrt. Nun, solcher Service scheint wohl selbst
hartgesottene Grenzer auf Trab zu bringen. Wir aber erreichten
erst um Mitternacht unser Quartier. Der Verfasser verzichtete
gerne auf das nächtliche „Souper“ - (und hatte auch nichts verpasst,
wie er am nächsten Morgen erfuhr.)
3.
Tag
Am
nächsten Morgen lachte schon wieder die Sonne; die dunkle, sich
hinschleppende Nacht war vergessen, (wie wir überhaupt während
der ganzen Reise Wetterglück genossen.) Links und rechts der
Überlandstraße durch die Karpaten-Ukraine erblickten wir Weinreben.
„Ubi vinum, ibi patria”, dachte sich der Autor. Bald
hielten wir in einem der „Schönborn“-Dörfer. Dieses berühmte
Geschlecht, das einst die Bischofsstühle in Mainz, Würzburg
und Bamberg innehatte und als Bauherren der Residenz in der
Mainstadt und von Schloss Pommersfelden Kunstgeschichte machte,
hatte im 18. und 19. Jhdt. deutsche Siedler dort angesiedelt.
Heute kümmert sich ein junger, energischer Pfarrer aus dem Breisgau
um das Wohl seiner Schäfchen. Die alte Kirche glänzt wie neu,
und auch im weltlichen Bereich hat er schon einiges bewegt wie
die Gründung einer Genossenschaft. Man kann solchen vorbildlichen
Menschen nur Hochachtung zollen, die „am Ende der Welt“ im Weinberg
des Herrn arbeiten.
Nun
wurde die Gegend flach, platt wie ein Flunder. Nur die endlosen
Baumalleen unterbrachen in ihrer Herbstfärbung die eintönige
Landschaft. Abends erreichten wir das erste Ziel unserer Reise:
Lemberg. Diese Stadt mit den vielen Namen - Löwenberg (deutsch),
Lwow (russisch), Lviv (ukrainisch), Lwów (polnisch) - bildete
einst den Knotenpunkt vieler Handelsrouten. Besonders unter
habsburgischer Herrschaft (nach der ersten polnischen Teilung
1772) blühte die Stadt auf. Deutsche, Polen, Juden, Ukrainer
(oder Ruthenen, wie die Österreicher sie nannten) und auch geschäftstüchtige
Armenier, die hier sogar ein eigenes Erzbistum errichteten,
lebten hier schiedlich-friedlich zusammen. Noch heute atmet
die Stadt in ihrer Architektur den Geist der k.u.k. Monarchie.
Man fühlt sich an Wien oder Budapest erinnert; der II. Weltkrieg
hat die Stadt kaum getroffen. Aber die kulturelle Vielfalt ist
unwiederbringlich dahin. Hitler holte die meisten Deutschen
„heim ins Reich“ und ließ die Juden ermorden, Stalin vertrieb
die Polen, die bis 1945 Zweidrittel der Einwohner stellten ;
heute leben fast nur noch Ukrainer in der Stadt.
Unser
Hotel war wieder solch ein „sozialistischer Kasten“, dessen bessere,
renovierte „Zimmer mit Aussicht“ (E.M. Forster) aber uns nicht
offenstanden. Wir sollten noch größere Überraschungen erleben.
4.
Tag
Erlebnishungrig
fuhren wir morgens auf den Löwenberg, um von seinem Gipfel die
Aussicht auf die Stadt zu genießen. Nun, von dieser Entfernung
aus sieht
man nicht viel; man hätte schon ein Fernglas zur Hand haben müssen.
Wenigstens wurden dem Späher die Ausmaße der Stadt einsichtig,
zählt sie doch mittlerweile über 700.000 Einwohner. Unsere junge
Stadtführerin erzählte uns nochmals aus der Geschichte der Stadt,
die wir schon im Bus zu hören bekommen hatten. Nun, „doppelt genäht
hält besser“, kam einem in den Sinn. Darauf ging es ins Zentrum
der Stadt. Vor dem prächtigen Theater machten wir halt, dem Treffpunkt
ganz junger Lembergerinnen, bei denen der Minirock gar nicht kurz
genug sein kann. Dieses Gebäude könnte auch in Wien oder Prag
stehen. Schön renoviert freuten wir uns auf den Abend. „Aida“
stand auf dem Programm. Das Mittagsmahl in einem uralten, frischgeputzten
Keller am Marktplatz erwies sich als Geheimtipp. Wir waren unter
uns und konnten nach Herzenslust unsere Eindrücke von Land und
Leuten „ausplaudern“. Doch die Frage nach den Geburtstätten so
berühmter Schriftsteller wie Stanislaw Lem, Autor skurriler Science
fiction-Geschichten, oder erst recht von Leopold von Sacher-Masoch,
Skandalautor der berühmt-berüchtigten „Venus im Pelz“ und
Namensgeber des psychopathologischen Begriffs Masochismus, konnte
unsere Führerin leider nicht beantworten. Nun ja, der Fremde,
erst recht der Spuren-Sucher hat es nicht leicht in dieser Stadt,
gibt es doch keinen City-guide, geschweige denn eine Touristen-Information.
Da ist es schon vorteilhaft, wenn man etwas polnisch kann, denn
in dieser Sprache gibt es einen ausgezeichneten Stadtführer. Für
die Polen ist ihr Lwów das, was für die Deutschen Breslau oder
Danzig ist. Der Verfasser verzichtete daher auf die nachmittägliche
Führung durch das ehemalige Ghetto und betrieb auf eigene Faust
Spurensuche - mit Erfolg. Lems Geburtshaus wurde gefunden (leider
ohne irgendeine Gedenktafel), ebenso die Stätte, wo einst das
Geburtshaus von Sacher-Masoch sich befand. Dieses existiert nicht
mehr. Seit ca. 1880 steht hier das „Grand Hotel“, seit der Wende
das vornehmste Hotel am Platze (mit entsprechenden Preisen.)
Und
abends in die Oper. Die Erwartung war nicht groß, wohl aber das
Erstaunen, dass unsere Gruppe allein das Parkett besetzte. Man
kann sich das öde Gefühl der Sänger und Sängerinnen angesichts
so vieler leerer Stuhlreihen vorstellen. Schade, dass keine einheimische
oder wenigstens eine russische Oper gegeben wurde. „Aida“ hört
man besser in der Arena von Verona. Und so suchte der Verfasser
schon nach dem 1. Akt das „Grand Hotel“ auf, um hier dem Geist
von Sacher-Masoch nachzuspüren. 1836 geboren wird er zu Unrecht
als Autor schlüpfriger Geschichten geschmäht. Sein „Don Juan
von Kolomea“ und andere Erzählungen atmen bewundernswert den
Geist der galizischen Heimat und sind noch heute lesenswert. Nun
ja, Lektüre vor Ort wird vom Verfasser ganz besonders geschätzt,
erst recht, wenn Gaumenfreuden sich dazugesellen.
5.
Tag
Vor
der Abreise wurde noch die St. Georg-Kathedrale besichtigt. Sie
ist der Sitz des griechisch-katholischen Patriarchen.
„Großerzbischof“ lautet der römische Titel, und dementsprechend
prächtig ist der ganze Komplex gehalten. Dennoch wirkt die Kirche
nicht einladend. Ihre barocke Architektur und lichtdurchflutete
Farbenpracht vertragen sich irgendwie nicht mit der Ikonosthase,
die einer orthodoxen Kirche mit ihrem nur von Kerzen gespendetem
Licht soviel geheimnisvolle Aura verleiht. Dass ein überlebender
Jude, Herr Dorfmann, dann uns noch zur Stätte des Abtransports
seiner Leidensgenossen in die KZs führte, machte die Stimmung
auch nicht fröhlicher. Hier im Osten trifft man, ob man will oder
nicht, immer wieder auf die Schrecken deutscher „Endlösung“. Wer
es nicht erlebt hat, wird es nie begreifen, und wer es erlebt
hat, wird es nie vergessen, dass das „Volk der Dichter und Denker“
zum „Volk der Richter und Henker“ wurde.
Beklommen
fuhren wir aus der Stadt; erst die Entfernung von den Stätten
des Grauens und die Neugier auf das nächste Ziel ließen uns
aufatmen. Nach 80 km war Brody erreicht. Dieser kleine Ort,
an dem sich heute „die Füchse gute Nacht sagen“, bildete zu
k.u.k. Zeiten den äußersten Punkt im Osten des Reiches. Der
Kaiser hatte diese Grenzstation zur Freihandelszone erklärt,
und mehr als Zwei-drittel der Einwohner waren Juden. Der berühmteste
Bürger der Stadt – und nur deswegen fährt der Literaturfreund
dorthin – ist Joseph Roth, Habsburgs letzter Sänger. Wer Altösterreich
literarisch erleben will, lese nur den „Radetzkymarsch“ oder
dessen Fortsetzung „Die Kapuzinergruft“. Und in seinen
Reisefeuilletons „Aus Galizien“ berichtet Roth aus der
alten Heimat. „Es war einmal...“ kann man angesichts
der heutigen Zustände nur bedauernd feststellen. Die Juden tun
dies mit besonderer Inbrunst, denn unter der langen Herrschaft
Kaiser Franz Josephs ging es ihnen relativ am besten. Dies bestätigten
dem Verfasser vor längerer Zeit in Israel alte, deutsch und
jiddisch sprechende Juden, die von jenen Zeiten schwärmten.
Sicher: Erinnerung verklärt, und Antisemitismus gab es auch
in jener Zeit, besonders in Wien; aber keine staatliche Schikanen
oder gar Pogrome wie in Russland.
Brody heute ist nicht unbedingt ein sehenswertes Städtchen.
Die Synagoge ist zerstört, das Geburthaus Roths existiert nicht
mehr, wohl aber der alte Bahnhof, dessen Atmosphäre Roth liebevoll
beschrieb, und das Gymnasium, an dem sein Jahrgang als letzter
ein deutsches Abitur machte. Das alte Jugendstil-Gebäude ist
auf Hochglanz poliert. Die Gymnasiasten lernen deutsch, sogar
hervorragend. Frau Melnik, die Deutschlehrerin, war ganz stolz,
uns Besuchern ein Video-Band vorführen zu können, auf dem ihre
Schützlinge sich mit Joseph Roth befassen. Und die äußerst hübsche
Lisa zögerte nicht, sich für ein gemeinsames Photo vor dem Denkmal
des Schriftstellers zur Verfügung zu stellen. Da bleibt Erinnerung
lebendig, solche Augenblicke (Augen – Blicke?) prägen sich ein.
Eine in der Tat „unverhoffte Begegnung“!
Ein
Erlebnis besonderer Art war der alte jüdische Friedhof. Ziemlich
zugewachsen, um nicht zu sagen: verwildert, ließ er uns ahnen,
wie groß einst hier die jüdische Gemeinde war. Wenn diese Grabsteine
aus dem Leben ihrer Verstorbenen erzählen könnten, welch reiche
Kultur würde hier wieder lebendig werden. Doch so bleibt ihre
Geschichte vom Winde verweht. Nur die Namen leben fort.
In
einiger Entfernung erblickten wir eine neue Siedlung halbfertiger
und auch bewohnter Häuser. Offensichtlich verdienen Händler,
Schlepper und sonstige Ganoven genügend Geld, um sich solch
aufwendige Bauten leisten zu können. Und Erfolg muss ja vorgezeigt
werden, der Familie und den Nachbarn.
Es musste weitergefahren werden. Diesmal Richtung Süden nach Tarnopol
(ukrainisch: Ternopil). In der Dunkelheit war der Weg schwer zu
finden; Hinweisschilder Fehlanzeige. So kamen wir erst spät am
Abend an. Das Hotel war eine „Sehenswürdigkeit“ für sich. Obwohl
an einem See in der Mitte der Stadt gelegen, glich die Rezeption
eher einer Schalterhalle und war um diese Zeit natürlich längst
geschlossen. Der Spiegel im Bad war eine wahre Mini-Ausgabe –
der Verfasser musste sich richtig bücken –, und das Waschbecken
hatte nicht mal einen eigenen Hahn. (Den lieferte die Dusche.)
Gottlob gab es wenigstens warmes Wasser. Spitze war das Abendessen:
Gemüsesuppe mit Fleischeinlage. Doch wie sooft hat alles seine
zwei Seiten. Der Verfasser sah seine Nachbarin zögernd in der
Suppe herumstochern und konnte sich das Frotzeln nicht verkneifen.
Kinder-sprüche wurden geklopft, d.h. das, was Eltern einst essensunwilligen
Kindern zu sagen pflegten; aber Frau Nachbarin war auch nicht
auf den Mund gefallen, und so hatte die Runde ihren Spaß.
6.
Tag
In
früher Morgenstunde wurde das Erlebnis des vorherigen Abends zu
einem Sketch verarbeitet und zum Frühstück vorgetragen. Schließlich
befand man sich ja in einer literarischen Runde. Daher sei er
in diesem Bericht nochmals aufgeführt zum Ergötzen aller Beteiligten:
Im
Gasthaus „Bei Lukullus“ in Ternopil
Eine
literarische Reisegesellschaft lässt sich zu später Stunde an
einer großen Tafel nieder. Nach dem obligaten Salat als Entree
wird eine Gemüsesuppe „mit Fleischeinlage“ serviert, die zwar
viel Kartoffel, doch wenig Gemüse enthält und zudem recht fettig
ist. Das Fleisch scheint überdies recht zäh zu sein.
Frau
X stochert mit ihrem Löffel skeptisch darin herum, ob sie diesen
Eintopf überhaupt ihrem Magen zumuten soll. Da ertönt einige
Plätze weiter eine männliche Stimme:
„Frau
Nachbarin, was sehe ich da? Hier wird gegessen, was auf den
Tisch kommt. Augen zu, Mund auf!“
Sie
probiert, schluckt tapfer hinunter und schüttelt sich.
„Aber,
aber! Alles schön aufessen, damit morgen schönes Wetter wird.
Eins für Mama, eins für Papa, eins für Oma...“
Man
prustet vor Lachen. Darauf Herr Y, ihr Gatte:
„Ich
esse meine Suppe nicht; nein, ich möchte keine Suppe. Ich muss
auf meine Linie achten.“
Der
Kritiker vorwurfsvoll:
„Was
höre ich da? So was haben Sie in Frankreich noch nie gesagt.
Im Übrigen, Kinder , die was wollen, die kriegen was auf die
Bollen.“
Darauf
Frau X:
Sie
Sprücheklopfer! Warten sie nur, bis Sie Ihre Suppe auslöffeln.
Dann werden wir ja sehen.“
Der
Kritiker ironisch:
Für
diese Götterspeise lasse ich jedes französische 3 Sterne-Menu
stehen.“
In
der Tat isst er seine Suppe mit lachendem Gesicht auf.
„Sehen
Sie, Frau Nachbarin, die Schüssel ist ratzekahl leergefuttert.
Hunger ist der beste Koch, und morgen gibt es gutes Wetter.
Prost, Frau Nachbarin!“
Es
klingen die Gläser. Fazit: Lachen macht aus dem misslungensten
Menu einen unvergesslichen Genuss.
So
gestärkt begab man sich zur Pädagogischen Universität. Dort
erwarteten uns - es war immerhin ein Samstagmorgen - der Dekan
und seine Mitarbeiter von der Germanistischen Fakultät. Eine
Assistentin hielt uns einen Kurzvortrag über Karl Emil Franzos,
auch ein deutschsprachiger Literat, dessen Berichte „ Aus
Halb-asien“ noch heute
kurzweilig zu lesen sind. Großes Erstaunen rief bei dem Verfasser
eine Karte hervor, auf welcher der Geburtsort von Hermann Kesten
(Pidwolotschisk) und des israelischen Nobelpreisträgers Schmuel
Agnon (Butschatsch) eingezeichnet war. Kesten, der exzellente
Schriftsteller von „Dichter im Café“ und Autor einer Biographie über Casanova dichtete:
In dem Kaffeehaus zur Erde
Bist du ein ungeladener Gast.
Und wenn du ausgetrunkenen hast,
Führen dich fort die schwarzen Pferde....
Du zahlst die Zeche. Man schließt das Lokal.
Schon morgen sitzt, wie Kirschen frisch,
Ein neuer Gast an deinem Tisch
Und schillert von Leben wie ein Opal.
Fortsetzung zur nächsten
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